Tastenkombination

Der Kampf meines Klaviers ums Überleben.

Mit einer Kinderserie im Fernsehen fing alles an. Ich war wohl 10. Es ging um zwei Mädchen in einem Schloss, glaube ich. Ein wenig mystisch und geheimnisvoll das Ganze. Mit Chopin unterlegt.

Von Mell Mern

Mit einer Kinderserie im Fernsehen fing alles an. Ich war wohl 10. Es ging um zwei Mädchen in einem Schloss, glaube ich. Ein wenig mystisch und geheimnisvoll das Ganze. Mit Chopin unterlegt.

Das ist jetzt 40 Jahre her. Seitdem lässt mich das Thema Klavier nicht in Ruhe. Ich finde es faszinierend, einem Klavierkonzert zuzuschauen. Die Hände gleiten über die Tasten, fröhlich und unbeschwert wie die Forelle durchs Wasser. Oder sie hämmern einen Wirbelsturm durch den Saal. Es geht auch zart und gaaaanz leise. Die Pianisten mit Leib und Seele dabei, jeder Ton pure Emotion. Ich könnte stundenlang zusehen.

Eher beiläufig, vor nunmehr fast drei Jahren, erzählten Freunde, bei ihrem Einzug in die neue Wohnung ein altes Klavier entdeckt zu haben. Die Vormieter hatten es schlicht im Keller vergessen. Hintergrund kann natürlich auch gewesen sein, dass der Transport wohl zu teuer geworden wäre. Und wer will schon ein altes Instrument von Karl Schütze Dresden? So um die Jahrhundertwende gebaut!

Das war so etwas wie ein Wink mit dem Zaunpfahl. Ehe ich mich versah, hörte ich mich sagen: „Das nehme ich!“. Verblüffte Blicke zuerst. Dann erheiterten sich die Gesichter. Bis man merkte, es war mir Ernst. Der Abend ging fröhlich mit dem ein oder anderen Glas roten Weines zu Ende.

Am nächsten Tag: Gesagt getan. Zuerst habe ich alle Hausbewohner gefragt. Keiner hatte etwas gegen Klavier üben oder mal einen falschen Ton. Alle fanden den spontanen Entschluss klasse. Und luden sich schon mal zum Hauskonzert ein.

Das Klavier wurde auf Herz und Nieren geprüft, in der Werkstatt aufgearbeitet. Hämmer, Saiten, Dämpfer. Ich durfte dabei sein und sein Innenleben entdecken.

Die Wohnung wurde umgeräumt, so ein Klavier braucht schließlich Platz und Raum. Und dann kam der Tag, an dem drei Männer das lang ersehnte Schwergewicht in den 2. Stock brachten. Ich war glücklich!

Nun also lernen. Ungewohnte Abläufe und Bewegungen üben. Notenblätter verstehen. Ich ging freudig ans Werk. Aber alleine, als Laie, kaum des Noten Lesens mächtig, war das sehr schwierig.

Ich dachte zunächst, ein paar gute Bücher reichen um mir das Klavier spielen selbst beizubringen. Schließlich lerne ich doch auch im Berufsleben täglich dazu. Aus Fachliteratur, Zeitschriften, dem Internet. Ich bin es gewohnt, Informationen zu verarbeiten und für meine Zwecke auszuwerten. Aber hier, am Klavier, war alles anders. Die Geduld ging mir ziemlich rasch aus. Ich war enttäuscht und niedergeschlagen ob meiner mäßigen Erfolge. Das war ich einfach nicht gewöhnt.

Also nahm ich Unterricht. Gute Entscheidung! Unter professioneller Anleitung lernt man leichter, Noten zu lesen, Oktaven zu verstehen, das Stück förmlich zu sehen. Je nach Vorliebe gibt es speziell auf Anfängerstufen zugeschnittene Fassungen bekannter Werke sowohl der Klassik als auch des Pop. Man bekommt doppelt Lust, sie zu spielen.

Was blieb, war aber die Schwierigkeit, mit der rechten Hand eine andere Melodie zu spielen als mit der linken, dabei noch die unterschiedlichen Noten für beide Hände zu lesen und womöglich noch die Pedale zu betätigen.

Es war zäh. So langsam hatte ich die Nase voll und dachte immer wieder ans Aufhören. Ich wollte das Klavier wirklich weggeben. Mich hielt „nur“ die alte Faszination davon ab. Und zugeben zu müssen, aufzugeben. Das wollte ich mir nicht eingestehen.

Also Analyse betreiben. Mache ich im Büro ja auch bloß, wenn es Schwierigkeiten gibt. Es wurde schnell klar: ich bin zu ungeduldig, habe zu hohe Erwartungen, übe zu schnell, zu kurz und zu den falschen Zeiten.

An vier Tagen die Woche, mehrere Stücke gleichzeitig, insgesamt meist nur eine halbe Stunde. Und das abends nachdem Job und Haushalt erledigt waren. Länger ging oft nicht, Konzentration Fehlanzeige. Erst wenn man etwa 20 Minuten lang die gleiche Melodie gespielt hat, verändern sich die Aktivitätsmuster im Gehirn. Die Hör- und die Handregionen vernetzen sich zwar bereits beim ersten Training. Aber erst nach drei bis fünf Wochen weiteren Übens sind die neuen Verbindungen stabil. Je häufiger, desto fester lautet die Devise.

Um drei Stücke zu üben, hatte ich aber nur 10 Minuten pro Stück. An Wochenenden fiel das Üben oft aus, weil ich meine Familie nicht überstrapazieren wollte mit dem falschen Geklimper. Das konnte nicht klappen.

Wenn ich geübt habe, dann oft auch viel zu schnell und ungeduldig. Dabei weiß jeder Klavierlehrer: wer langsam übt, übt richtig. Da sich auf diese Weise die entsprechenden Gehirnregionen am stärksten aktivieren. Bewegungen und Noten merken sich einfach leichter in Zeitlupe.

Ich war mir zunehmend selbst peinlich am Instrument. Früher ein schneller Lerner, mit ausgeprägtem Faible für Sprachen, kann ich heute kaum die Noten lesen!?

Hat das mit dem Alter zu tun? Das Internet gibt bereitwillig Auskunft. Wissenschaftler meinen mittlerweile, dass das junge Erwachsenenalter bis etwa 45 Jahre dauert, das mittlere bis 65 und danach erst von „Alter“ zu sprechen ist. Beim Lernen am Erfolgreichsten sind zwar die 15- bis 29-Jährigen. Zwischen den 30- bis 75-Jährigen gibt es dann aber kaum noch Unterschiede. Erst mit über 80 wird es deutlich schlechter. Altersmäßig bin ich also eher im Mittelfeld angesiedelt. Puh!

Das Gehirn zu trainieren ähnlich einem Muskel ist also das ganze Leben lang möglich. Je älter man wird, umso länger braucht das Gehirn zwar für neue Vernetzungen. Ungewohnte Arbeiten erfordern längeres Training. Schließlich ist man jahrzehntelang auf andere Lern- oder Bewegungsmuster fixiert gewesen. Und setzt mit zunehmendem Alter immer mehr das bewusste Denken und Handeln ein. So kompensiert man motorische Schwächen durch gekonnte Techniken.

Okay, verstanden. Hab’s versucht. Geübt wird jetzt intensiv an den Wochenenden. Und zwar langsam beginnend und ungestört. Diese Zeit ist mittlerweile fester Bestandteil der Wochenendplanung.

Wenn, gerade bei Frauen meines Alters (dem Klimakterium sei Dank!), die Konzentration mal schwächelt, verliere ich nicht mehr die Nerven, sondern gehe kurz in den Garten. Frische Luft schnappen. Tief durchatmen. Und dann gleich wieder zurück ans Klavier ohne zaudern. Ich erarbeite mir jedes Stück immer noch sehr mühsam. Das gleichzeitige Betätigen der linken und der rechten Hand ist eben auch nicht einfach. Ich habe akzeptiert, dass ich für manche Fortschritte eben etwas länger brauche. Das darf ich jetzt! Schließlich will ich ja Spaß haben, keinen Leistungskurs gewinnen.

Und was soll ich sagen: es hat sich gelohnt. Die Fortschritte sind mittlerweile nicht zu überhören. Das Klavier ist beruhigt: es darf bleiben. Es soll bleiben.

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