Mit dem Projekt „Seniors Rocking“ beweist die 91-jährige Anna Halprin wie befreiend es sein kann, Gefühle mit dem Körper auszudrücken. In einem kalifornischen Seniorenzentrum fordert sie zum Ausdruckstanz auf. Über einen beeindruckenden Film von Ruedi Gerber berichtet:
Von Wolfgang Riebesehl
Anna Halprin zählt zu den bedeutendsten Künstlerinnen des modernen Tanzes. Ganze Generationen von Tänzern und Choreografen hat sie seit den frühen fünfziger Jahren beeinflusst, den Ausdruckstanz revolutioniert. Mit ihren avantgardistischen Auftritten auch so manchen Skandal ausgelöst.
Mit 50 Jahren dann der Bruch. Sie erkrankt an Darmkrebs und verabschiedet sich aus der Öffentlichkeit. Zuhause, auf ihrer „Bühne“ – einer besonderen Terrasse vor ihrem Haus in San Francisco – tanzt sie jedoch weiter. „Ich habe mir den Weg zur Heilung freigetanzt.“ sagt sie heute. Aus dieser Erfahrung hat sie eine eigene Methode entwickelt: Tanz als Heilungsritual – wie sie es nennt. Und die gibt sie in Workshops weiter. Der Dokumentarfilm „Seniors Rocking“ des Schweizers Ruedi Gerber gibt Einblick in ihre ungewöhnliche Arbeit.
Es beginnt sehr langsam. Nach und nach füllt sich der Raum in der Redwoods Community of Seniors in Marin County, Kalifornien. Einander zum Teil stützend und dem ersten Eindruck nach alles andere als „rüstig“ dauert es, bis alle Teilnehmer des Workshops an ihren Plätzen sind: den „Rocking Chairs“, den Schaukelstühlen. Anna Halprin scherzt: „Hört zu, wir müssen unsere Zeit sehr gut ausnutzen.“ Gelächter im Hintergrund, einer bestätigt: „Yes!“.
Dann geht es los und sie kommt auch gleich auf den Punkt: „Der Tanz, der hier entsteht, gründet auf meinen Erfahrungen durch die Arbeit mit Euch. In allen Bewegungen sind also Eure Stimmen enthalten. Die Ideen stammen nicht von mir. Es sind Eure Botschaften. Ich setze sie bloß zusammen.“ Anna Halprin hat sich mit jedem Teilnehmer persönlich beschäftigt. Hat „Vermächtnisse“ gesammelt, was im Leben des Einzelnen wichtig war, was er geleistet und nicht geleistet hat, was er getan hat und was er noch tun kann. Das alles fließt nun in die Übungen ein. Die Vorbereitung auf eine ganz besondere Performance. Und je mehr Bewegung in die Körper kommt, desto heiterer wird die Stimmung bei den Tänzern. Sie gehen förmlich aus sich heraus, blühen geradezu auf. Jeder nach seinen Möglichkeiten. Die Freude dabei steht allen ins Gesicht, auf den Körper geschrieben.
In Zwischenkapiteln kommen einzelne Tänzer zu Wort. Sie berichten über ihr Leben und was die Übungen für sie ganz persönlich bedeuten. Und Anna Halprin erläutert ihre Mission: „Ich hoffe mit meiner Arbeit den Tanz neu definieren zu können (…) möchte all die Grenzen aufheben, die den Tanz vom normalen Menschen trennen.“ Höhepunkt des Workshops ist eine gemeinsame Performance in freier Natur. Eine Wiese mit Blick auf einen See. Die Gruppe sitzt auf Schaukelstühlen.
Halprin: „Macht es Euch bequem. Hört Ihr die Geräusche? Seht Ihr die Vögel? Streckt die Arme in die Höhe und nehmt all das auf.“ Und schließlich: „Stellt Euch vor, Ihr bewegt Euch wie diese Vögel, flattert mit den Händen, bewegt die Arme.“
Dann der beeindruckende Moment, als ein Schwarm Wildgänse geflogen kommt und sich auf dem See vor der Gruppe niederlässt, als seien sie gerufen worden. Jetzt kommen Trommeln und Flöten ins Spiel, es wird gemeinsam gesungen. Am Ende hält es die meisten nicht mehr auf den Schaukelstühlen. Man tanzt frei eine eigene Choreografie, andere stützen sich gegenseitig und eine kleine Gruppe macht einfach im Sitzen mit. Aber alle tanzen! Am Schluss nimmt sich die Gruppe bei den Händen und schwingt gemeinsam mit Blick auf den See. Als wollte man sich für dieses Erlebnis bei Mutter Natur bedanken.
Wer schon einmal die gängigen Bewegungstherapien in Senioreneinrichtungen beobachtet hat weiß, was Halprins Methode auszeichnet: sie macht einfach Spaß! Und mehr als das. „Wichtig ist, dass man sich jeder Bewegung bewusst ist. In dem Augenblick, wo zwischen Bewegung und Gefühl eine Verbindung hergestellt wird, entsteht Kunst.“ Ein im wahrsten Sinne des Wortes bewegender Film.