Die große Angst vorm Pflegeheim

Senior mit LaptopIst sie begründet? Ein Telefonat mit einer Leserin bestätigt, dass zum Teil große Verunsicherung besteht. Reißerische Berichte in den Medien tun ihr Übriges. Grund genug für uns, hinter die Kulissen zu schauen. Vor Ort, ganz persönlich.

Von Wolfgang Riebesehl

Altenpflegeheim Emmaus Leipzig, Artikel HERBSTFEUER Nr. 03

Foto: Altenpflegeheim Emmaus Leipzig

Anruf beim Leipziger Altenpflegeheim Emmaus. Die Nachfrage bei Heimleiter Mario Weise offenbart Zurückhaltung. Mein Wunsch nach einem Interview wird skeptisch aufgenommen. „Wir hatten mal einen Fernsehsender da, die haben dann im Flur die Lichter ausgeschaltet und nur gedreht, wenn gerade keine Pflegekräfte im Bild waren. Das wurde ein richtig gemeiner Beitrag über finstere Zustände in Altenheimen.“ Ich beruhige ihn. Sein Haus ist mir vom Hospiz Verein Leipzig e. V. empfohlen worden. Ich habe einfach nur wichtige Fragen von unseren Lesern. Ich bekam den Termin.

Beim Betreten des Heimes kommt mir leise tuschelnd eine Gruppe Kinder entgegen. Ich bin verwundert. Einige Heimbewohner folgen der Gruppe, teils in Begleitung von Mitarbeitern des Hauses. Es herrscht eine fröhliche, gelöste Stimmung. Herr Weise begrüßt mich, in seinem Büro nehmen wir Platz.

Herr Weise, letzte Woche rief eine Leserin im Verlag an. Sie sei 79, Ihr Lebenskamerad 88 Jahre alt und: Sie hat große Angst vor dem Pflegeheim. Was würden Sie ihr sagen?

Ganz einfach: Kurzzeitpflege! Oft ist es so, dass Menschen nach Operationen oder Klinikaufenthalten zu uns kommen. Weil sie noch nicht so wieder hergestellt sind, dass sie allein zuhause zurecht kommen würden. Auf diese Kurzzeitpflege lassen die Leute sich gern ein. Sie wissen, dass sie nach ca. 28 Tagen wieder nach Hause können. Und viele bekommen mit: Das ist gar nicht so schlimm, nicht das Ende der Welt. Sie können sich frei bewegen, werden umsorgt, haben Freundschaften geknüpft. Dann passiert es ganz oft, dass Menschen, die vorher gesagt haben: „Ich will in kein Heim.“ einen Aufnahmeantrag stellen. Mein Eindruck ist, dass bei vielen immer noch die Vorstellung von DDR-Heimen im Kopf spukt. Mit Sechsbettzimmern und „einer Windel für alle“. Wenn sie dann sehen, wie es bei uns wirklich ist, alles Einzelzimmer mit Bad und WC inklusive, ist diese Angst wie weggefegt.

In den Medien ist in letzter Zeit verstärkt ein Trend zur Dramatisierung zu beobachten. Pflegeheime würden ums Überleben kämpfen, von unhaltbaren Zuständen ist die Rede. Ist das so?

Wir gehören zur Wohlfahrtspflege, der Diakonie, also kirchliche Träger. Da sehe ich weniger Probleme. Eher bei einigen privaten Heimen. Dort wird oft nach dem Schema: Pflege ist Zukunft, Pflege bringt Geld, lasst uns ein Heim eröffnen! bedenkenlos gearbeitet. Wenn solche (planlosen) Heime dann mit Auslastungen von 60 Prozent wirtschaften, sind Schwierigkeiten zwangsläufig. Unsere kirchlichen Heime haben eine lange Tradition, sind natürlich gewachsen. Sicher müssen wir kostendeckend und mit Ertrag wirtschaften, aber ohne die für private Betreiber typische Gewinnmaximierung. So können wir Überschüsse z. B. in Personal investieren. Wir zahlen Tariflöhne, die Geschäftsführung hat keinen „Porsche geleast“ und der Pflegeschlüssel ist auch etwas besser.

Wir haben hier ein Wohngemeinschaftskonzept. 6 Einheiten mit je 13 Bewohnern. Im Schnitt arbeiten pro Einheit 3 Pflegekräfte pro Schicht. Bei Unterbesetzung, z. B. durch Krankheit oder Urlaub, kommen auf jeden Pfleger höchstens 6 Bewohner. Das ist unser Minimalstandard. Wenn ich dann von Heimen höre, wo 2 Leute bis zu 40 Bewohner betreuen müssen, wo zum Teil schon in der Nacht gewaschen werden muss, damit es überhaupt zu schaffen ist, dann ist das bedenklich.

Thema Fachkräfte. Wie ist die Situation in Ihrem Haus?

Prinzipiell herrscht allgemeiner Fachkräftemangel. Aufgrund der eben beschriebenen Arbeitssituation. Wir spüren das weniger. Die Situation ist entspannter, die Bezahlung ordentlich, es gibt Sonderzahlungen in guten Geschäftsjahren. Das liegt an unserem Konzept. Bei uns tritt die Pflege selber in den Hintergrund, nur dort in Erscheinung, wo sie notwendig ist. Die persönliche Wohnsituation soll so privat und natürlich wie möglich gestaltet werden. Dadurch arbeiten unsere Fachkräfte eher wie ein ambulanter Dienst.

Also werden die Bewohner von Hilfskräften betreut? Wie sieht es da mit der Qualitätssicherung aus?

Das funktioniert sehr gut. Fachkräfte leisten Behandlungspflege, also Spritzen verabreichen, Verbandpflege. Das sind verantwortungsvolle Tätigkeiten, die aber relativ schnell gehen. Was richtig Zeit braucht, ist die Grundpflege. Waschen, Duschen oder Betreuung und soziale Dienste. Das leisten bei uns ausgebildete, sogenannte Präsenzkräfte. Wir wurden als Modelleinrichtung vom Fachkräfteschlüssel befreit. Wir haben „nur“ einen Anteil von 30 Prozent. Die Überschüsse aus dem Pflegeschlüssel haben wir in mehr Präsenzkräfte investiert. Deshalb sind wir personell sehr gut aufgestellt. Es steht jedem Bewohner mehr Zeit für eine intensive Betreuung zur Verfügung. Wir haben die Pflege einfach kreativer organisiert. Das klappt wunderbar. Vielleicht ist das ein Signal an die Politik, zu überlegen, ob unser Modell nicht auch die Pflegesituation allgemein verbessern kann!

Welche Extraleistungen können da zusätzlich erbracht werden?

Beispiel Bettlägerigkeit. Ich kenne Heime, wo Menschen mit dieser Diagnose tatsächlich 24 Stunden im Bett verbringen. Das ist einfacher und auch billiger. Bei uns werden sie in das tägliche Leben integriert, mit an die Luft genommen. Oder Demenz. Wir erleben das in unserem Musikkreis. Bewohner, die oft seit Monaten zuhause nicht mehr kommunizieren konnten, fangen plötzlich an zu singen. Da sind wir selber freudig überrascht.

Es gibt heute viele Dinge, die stark eingeschränkten Menschen eine Teilhabe am Leben ermöglichen. Sprachcomputer etwa. Was wird nachgefragt, wer bezahlt was?

Technische Lösungen zur Kommunikation gehören in die Leistungspflicht der Krankenkassen. Das ist genau definiert. Wir hatten einen Fall, wo eine komplette Muskellähmung vorlag und nur mit den Augen kommuniziert werden konnte. Die Kasse hat dann einen Rollstuhl mit Augensteuerung und Sprachcomputer zur Verfügung gestellt. Grundsätzlich sind die Kassen für die Teilnahme am Alltag und die Heime für pflegeerleichternde Dinge zuständig. Da gibt es immer mal Auslegungsprobleme, aber im Prinzip funktioniert das.

Man hört oft von Bastelstunden und ähnlich „anspruchsvollen“ Beschäftigungs-angeboten. Was bieten Sie an?

Einmal im Monat kommt eine Kindergruppe vom benachbarten Kindergarten und tanzt mit den Senioren. Mit therapeutischer Begleitung. Das macht allen viel Spaß. Den Musikkreis haben wir bereits angesprochen. Wir organisieren z. B. Geburtstagsnachmittage gemeinsam mit den Mitarbeitern und ganz verschiedene Aktionsangebote. Alles ist freiwillig. Niemand wird mit einer Papierschere in die Ecke gesetzt.

Ich bedanke mich für das Gespräch. Inzwischen ist die Tanzstunde vorbei und ich gehe – der Kindergruppe hinterher – nach draußen. Mit einem guten Gefühl.

Mein Fazit: Generelle Angst scheint nicht begründet. Steht die Entscheidung für ein Pflegeheim an, ist einfach sehr genau zu prüfen. Aber schon an der Stimmung, die man bei einem Besuch einfängt merkt man, ob dieser Ort der richtige ist. Wichtig: Fragen stellen, offen auch über Bedenken reden und nötigenfalls einfach NEIN sagen.

Altenpflegeheim Emmaus Leipzig

Ein Gedanke zu „Die große Angst vorm Pflegeheim

  1. Mit diesen Informationen zum Thema Altersheim kann ich die richtige Entscheidung treffen. Ich versuche herauszufinden, ob mein Vater in ein Altersheim gehen muss. Es ist nicht immer einfach, eine Entscheidung zu treffen. Vor allem, wenn man nicht genau weiß, was die Möglichkeiten sind.

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